Rückblick Februar 2017:
Der Flüchtlingsstrom aus Syrien hat gerade seinen Höhepunkt überschritten. Ich erhalte eine E-Mail in einem Mischmasch aus Deutsch und Englisch, der ich entnehmen kann, dass ein junger Mann, angeblich an einer syrischen Kinder- und Jugendsportschule im Tischtennissport ausgebildet und früher zum Nachwuchskader seines Landes gehörend, Mitglied in unserem Verein werden will. Sofort habe ich Kopfkino und stelle mir vor, wie syrische Kinder und Jugendliche in alten Klamotten und Latschen an den Füßen um eine Tischtennisplatte aus Beton rennen und Pingpong spielen. Trotzdem weckt diese E-Mail eine gewisse Neugierte in mir. Ich antworte schließlich und schlage vor, dass wir uns treffen. „Sicherheitshalber“ nenne ich als Treffpunkt einen neutralen Ort, nämlich ein Straßenkaffee in der Nähe vom Rostocker Hauptbahnhof. Natürlich will ich der Erste sein und erscheine 20 Minuten vor der verabredeten Zeit. Die Rechnung habe ich aber ohne Osamah gemacht. Als ich mich dem Straßenkaffee nähere, sehe ich davor einen jungen Mann auf- und abgehen, der sich durch sein Aussehen von allen anderen Passanten abhebt. Im perfekt sitzenden Anzug, weißem Hemd mit Krawatte und einer Bewerbungsmappe unter dem Arm steht dort jemand, der nur auf mich warten kann. Zielgerichtet gehe ich auf ihn zu und spreche ihn an. Nachdem wir uns gegenseitig vorgestellt haben, übergibt er mir die Bewerbungsmappe, die alles enthält, was man für eine erfolgreiche Bewerbung im neuen Job benötigt. Ich bin sprachlos und nehme aus reiner Höflichkeit die Mappe entgegen. Im Laufe des Gesprächs merke ich sehr schnell, dass ich es mit einem sehr zurückhaltenden, höflichen, freundlichen, aber auch nachdenklichen und sensiblen Menschen zu tun habe. Er spricht von seiner Familie, seiner Ehefrau und der kleinen Tochter, die beide noch in Syrien sind und so schnell wie möglich nach Deutschland kommen sollen. Er spricht von seinen Eltern und Geschwistern, aber auch von seinen Zukunftsplänen, von einem Integrationskurs und neuer Berufsausbildung. Er will sich ganz schnell integrieren und sucht deshalb Kontakt zu Deutschen, um deren Leben zu verstehen. Eigentlich ist mir schon zu diesem Zeitpunkt egal, ob er Tischtennis spielen kann oder nicht. Seine Lebensgeschichte, aber auch seine klar formulierten Ziele sind jede Unterstützung wert. Hier ist jemand, der genaue Vorstellungen von der Zukunft hat und unser Verein kann bei der Umsetzung eine wichtige Rolle spielen. Spontan sichere ich meine persönliche Unterstützung zu und lade ihn für den nächsten Tag zum Probetraining ein. Als Osamah dann in der Sporthalle 603 erscheint und seinen mindesten 10 Jahre alten und völlig abgespielten Tischtennisschläger aus der Sporttasche holt, ist sofort mein Kopfkino wieder aktiv. Aber egal, die sportlichen Erwartungen sind eh gering. Doch was sich dann vor meinen Augen abspielt, lässt mich aus dem Staunen nicht mehr heraus kommen. Ich sehe einen jungen Mann, der den Tischtennissport beherrscht, wie kaum ein anderer in unserem Verein. Sofort nach dem Training fülle ich gemeinsam mit ihm einen Aufnahmeantrag aus. Osamah Fakhouri ist nun Mitglied in unserem Verein. Soweit meine Erinnerungen an die ersten Begegnungen mit Osamah.
In den Folgejahren entwickelt sich Osamas Leben mehr oder weniger wie geplant. Schon Ende 2017 dürfen Ehefrau und Tochter nach Deutschland nachreisen. Erst in Lichtenhagen, dann in Evershagen findet die kleine Familie eine schicke Wohnung. Er absolviert erfolgreich eine überbetriebliche Ausbildung zum Speditionskaufmann, findet im Anschluss jedoch keine Firma, die ihn einstellen will. Erst zwei Jahre später bekommt er in Ribnitz-Damgarten im Hagebaumarkt als Lagerarbeiter eine Anstellung. Ab 2021 arbeitet er dann als Verkäufer im Bauhaus in Rostock. Seine Ehefrau, in Syrien studierte Apothekerin, findet in Rostock jedoch keinen Job. In mehreren Apotheken darf sie sich, meistens für 3 Monate und ohne Bezahlung, als Praktikantin nützlich machen. Zur Festeinstellung kommt es nie.
Sportlich geht es für Osamah in dieser Zeit immer nur in eine Richtung, nämlich nach oben. Die 1. Mannschaft, deren Nummer 2 er hinter Juan Lopez Montoya ist, legt einen beispiellosen Durchmarsch von der Stadtliga über die Bezirkslasse, Bezirksliga in die Landesliga hin. Osamah gehört jedes Jahr zu den besten 4 Einzelspielern der jeweiligen Ligen.
Beruflich bedingt erfolgte vor etwas mehr als 6 Wochen der Umzug der Familie nach Hamburg. Beide, sowohl Osamah als auch seine Ehefrau, haben dort lukrative und ihrer Ausbildung entsprechende Jobs gefunden. Außerdem ist für August Familiennachwuchs geplant. Das Ehepaar freut sich auf die Geburt einer weiteren Tochter, die schon im Hamburger Umfeld das Licht der Welt erblicken soll.
Osamah ist für die letzten 4 Punktspiele jeweils aus Hamburg angereist und hat damit entscheidend zum Klassenerhalt der 1. Mannschaft in der Landesliga beigetragen. Ab August wird er nun für den VT Hamburg-Eilbeck auf Punktejagd gehen.
Ohne Osamah hätte die Abteilung Tischtennis die sportliche Entwicklung der letzten Jahre nicht vollziehen können. Unsere 1. Mannschaft würde weder in der Bezirks- noch in der Landesliga spielen. Er wird eine sportliche Lücke hinterlassen, die in der neuen Saison kaum zu schließen ist. Unser Verein hat nicht nur einen großen Sportler verloren, sondern viele Abteilungsmitglieder auch einen guten Freund. Nach dem letzten Punktspiel, Gegner war kein geringerer als der Tabellenzweite TSV Rühn und es ging um unseren Klassenerhalt, erfolgte Osamahs offizielle Verabschiedung. Viele gestandene Sportsmänner schämten sich ihrer Abschiedstränen nicht.
Wir wünschen Osamah und seiner Familie alles erdenklich Gute für die Zukunft.
Volker Ströde